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„Das Tagebuch der Rywka Lipszyc“

Eine Rezension von Riana Bußmann (Q3).

Rywka Lipszyc, ein jüdisches Mädchen, schreibt 1944 im Lodzer Ghetto ihr Tagebuch. Erst 2015 wird der einzige erhaltene Band in Deutschland unter dem Titel ,,Das Tagebuch der Rywka Lipszyc“ im Jüdischen Verlag im Suhrkamp Verlag veröffentlicht.

Die damals Vierzehnjährige beginnt diesen Tagebuchband im Oktober 1943. Ihre Eltern, sowie kurz darauf zwei ihrer Geschwister hat sie bereits verloren und lebt nun mit ihrer jüngeren Schwester bei ihren Cousinen. Immer wieder beschreibt sie die Trauer und die Schuldgefühle, die sie seitdem plagen, da sie glaubt, die Deportationen ihrer Geschwister im Jahre 1942 hätten verhindert werden können. All ihre Erlebnisse und Gefühle vertraut sie ihrem Tagebuch an und zeichnet so ein grausam genaues Bild des harten Ghettoalltags.

Sie beschreibt ihre Arbeit in einer Näherei, zahlreiche Begegnungen und ihre Versuche, sich trotz ihrer Situation weiterzubilden. Viel häufiger geht sie aber auf ihre Innenwelt ein, so dokumentiert sie die Auswirkungen der Umstände im Ghetto auf ihre persönliche Entwicklung. Immer wieder thematisiert sie die Verzweiflung und den herrschenden Hunger sowie ihre Bemühungen, eine eigene Identität zu entwickeln. Ein zentrales Thema dabei ist ihr Glaube an Gott. Sie ist streng jüdisch erzogen worden und versucht trotz Mangel und Entbehrungen, diesen Glauben auszuleben. Immer wieder betont sie, dass sie, trotz ihrer misslichen Lage, auf Gottes Hilfe vertraue und dankbar sei, Jüdin zu sein. Auch ihre Bestürzung über das Handeln einiger Personen kommt zum Ausdruck, denn die extremen Lebensbedingungen beeinflussen die soziale Ordnung und nötigen viele zur Kriminalität. Neben den Einträgen an sich sind auch einige Briefe an Freundinnen beigefügt, vor allem an ihre ältere Freundin Surcia, die gewissermaßen Rywkas Mentorin ist und an der sie sich oft ein Beispiel nimmt. Insgesamt bemüht sie sich um einen regen Austausch unter Gleichaltrigen und besucht deshalb Lesezirkel und tauscht ihre Tagebücher mit Freundinnen, die ebenfalls schreiben, aus.

Im April 1944 bricht das Tagebuch unvermittelt ab. Heute weiß man, dass sie nach der Liquidierung des Ghettos in verschiedene Konzentrationslager deportiert wurde. Unter anderem nach Auschwitz und Christianstadt, wo sie Zwangsarbeit verrichten musste. Von dort aus wurde sie auf einen Todesmarsch nach Bergen-Belsen geschickt und erlebte dort die Befreiung des Konzentrationslagers. Kurze Zeit später verliert sich aber ihre Spur in Lübeck.

Vor dem eigentlichen Tagebuch ist ein erläuternder Aufsatz des Historikers Fred Rosenbaum angefügt, der zwar das Verständnis im Allgemeinen erleichtert, allerdings aufgrund seiner Anordnung an den Anfang, dem*der Leser*in Interpretationsmöglichkeiten vorwegnimmt. Auch weitere erläuternde Texte von Verwandten, die ihre Erinnerungen an Rywka beschreiben, tragen zu einem klaren und differenzierteren Textverständnis bei. Denn die Aufzeichnungen sind eine Aneinanderreihung von Beschreibungen, Emotionen, Eindrücken, Erinnerungen und Gedanken. Sie sind gekennzeichnet durch eine recht einfache und zum Teil chaotisch zusammengefügte Sprache, die immer wieder von Ausrufen und Fragen durchzogen ist. Trotz dessen ist es insgesamt gut verständlich, auch weil erläuternde Fußnoten hinzugefügt wurden.

Insgesamt fand ich die Lektüre sehr interessant, da man sich durch die detailgetreue Wiedergabe ein genaues Bild von den Umständen im am längsten bestehenden Ghetto zu dieser Zeit machen kann. Zudem ist dieses Tagebuch einzigartig, da es einen Zeitraum abdeckt, zu dem es keine vergleichbaren Aufzeichnungen aus dem Lodzer Ghetto gibt. Auch ihre von religiösen Aspekten beeinflusste Sicht auf die Dinge unterscheidet sich von anderen Tagebüchern.

Dennoch würde ich das Buch eher Leuten empfehlen, die sich wirklich für das Thema Holocaust interessieren, weil das Lesen durch ihren sprunghaften und unmittelbaren Erzählstil zum Teil etwas anstrengend ist, aber es ist ein bewegender Blick in die damalige Zeit.