Allgemein, Deutsch

„Wo die großen Wellen waren“

Eine Kurzgeschichte von Zoe F. Amey, 8c (2021/2022). Dieser Beitrag entstand im Zuge des Deutschunterrichts (Fachlehrerin: Frau Schubert).

Die blassen gelben Sonnenstrahlen krochen langsam hinter dem Horizont hervor und versuchten, sich ihren Weg durch den mit Wolken besetzten Himmel zu bahnen. Die See war unruhig. Die Bewohner der Küste und des Meeres noch am Schlafen. Issys Füße waren die einzigen, die feine Abdrücke in dem nassen, steinigen Sand hinterließen, als sie ihre Zehen in den kalten Untergrund grub und hinaus auf das aufgewühlte Wasser sah. Doch in ihren Gedanken war sie ganz und gar nicht allein. Die Stimmen ihrer Freunde schwirrten ihr durch den Kopf wie lästige Fliegen. Du würdest das niemals schaffen! Das traust du dich doch gar nicht! Du bist nicht so gut wie wir! Außen ließ Issy sich nichts von ihrer Wut und Frustration anmerken. Sie wollte es ihnen beweisen, dennoch blieb ihre Atmung ruhig und gelassen, im direkten Gegensatz zu den tobenden Wellen dort draußen. Nichts was sie nicht schon mal erlebt hatte. Ihr Haar peitschte ihr ins Gesicht und die Gischt spritzte bei jeder Berührung mit ihren Füßen. Ein Schritt weiter. Ein Schritt weiter zur Anerkennung, die sie verdient hatte. Das ausgiebig verzierte Brett unter ihrem Arm, das raue Material unter ihren Fingerkuppen, ihre warme Haut unter der enganliegenden Neoprenschicht, fühlten sich vertraut an. Langsam ließ sie das Brett vor sich ins Wasser gleiten, bevor sie sich auf diesem platzierte. Der an ihrem Bauch anliegende Stoff kratzte leicht an der Oberfläche des Brettes, als sie ihre Arme ins Wasser senkte. Den Kopf aufgerichtet setzte sie sich entschlossen in Bewegung. Dicke Tropfen trafen sie jedes Mal im Gesicht, wenn ihre Hände die Wasseroberfläche wie Pfeilspitzen trafen und ihre Arme das Wasser durchteilten, als hätte sie scharfe Klingen an ihnen befestigt. Issys Blick war weiterhin nach vorne gerichtet. Sie musste weiter raus. Dorthin, wo die großen Wellen waren. Sie musste es den anderen zeigen. Beweisen, dass sie es konnte. Weiter kämpfte sie sich voran. Das Rauschen des Meeres im Ohr und die nassen Haare im Gesicht. Immer den Blick zum Horizont gerichtet. Immer wieder musste sie gegen die kleineren Wellen ankämpfen, um nicht zurückgeschwemmt zu werden. Sie wartete. Sie suchte die Richtige. Sie würde schon kommen. Issy merkte, ihre Kraft schwand. Jede Welle raubte ihr Stärke und ein Stück ihrer Konzentration. Nicht aufgeben, durchhalten. Und dann war sie da. Wie ein bedrohliches Heer aus tausenden Kriegern stürmte sie auf Issy zu. Das war ihre Chance. Die Welle rollte weiter aufs Ufer zu, ganz egal, was ihr in den Weg kam, sie walzte alles nieder. So schön und doch so gefährlich. Vorsichtig richtete Issy sich auf und schaute dem angsteinflößenden Monster nun direkt entgegen. Sie musste das schaffen. Sie konnte das schaffen. Sie wusste, sie konnte das schaffen. Issy holte einmal tief Luft und atmete die eisige Seeluft ein, welche sich stechend ihre Luftröhre hinunter wand. Das Ungeheuer kam näher. Nur noch wenige Meter dann würden die beiden aufeinandertreffen. Issy machte sich bereit. Das Wasser um sie herum wütete und wartete förmlich darauf, dass die beiden aufeinandertrafen. Issys Muskeln spannten sich an, ihre Arme drückten sie hoch und sie stemmte sich auf ihre Beine. Das Brett wackelte unter ihren Füßen, doch ihre ausgestreckten Arme hielten sie im Gleichgewicht. Die Welle bäumte sich unter ihr auf und mit der Seite ihres Brettes schnitt sie eine gerade Linie in die Innenwand, während sie weiter das Gleichgewicht hielt. Das tosende Wasser unter ihr und den frischen kalten Wind um ihre Ohren, schloss Issy die Augen. Sie hatte es geschafft. Sie konnte allen beweisen, dass sie es wert war. Sie war die Beste und niemand konnte ihr nun weniger Anerkennung schenken, als sie verdient hätte. Niemand konnte Issy mehr sagen, was sie zu tun oder zu lassen hatte. Die Welle grollte. Das Wasser unter ihr bebte. Issys Füße verloren den Halt. Erst der eine, dann der andere. Ihr Körper schwankte und im nächsten Moment begruben sie die wilden Wassermassen unter sich. Die plötzliche Kraft drückte sie tiefer und presste ihre Lunge zusammen. Sie bekam keine Luft. Sie brauchte Luft. Die Strömung zog sie in alle Richtungen. Issy konnte sich nicht wehren. Sie war machtlos. Immer schwerer fiel ihr das Denken. Wo war oben, wo unten? Ihr Sichtfeld verschwamm. Ihre Augen fielen zu. Die Welle ließ sie nicht entkommen. Issys Glieder wurden schwach und ihr Körper begann zu sinken. Stille breitete sich in ihrem Kopf aus. Eine friedliche Stille. Alle Gedanken waren wie weggefegt. Doch der Wille eines menschlichen Körpers nach Luft und Leben war noch immer da. Dieser einzige Gedanke schob sich in Issys tiefstes Unterbewusstsein. Er überzeugte sie. Sie war es wert zu kämpfen. Mit letzter Kraft und so gut wie keiner Luft mehr in der Lunge drückte sie sich in Richtung der schimmernden Wasseroberfläche. Sie durchbrach diese, wie ein Flugzeug die Wolkendecke durchquert. Ihr Körper schnappte nach Luft. Sie hatte es geschafft. Doch war es das Risiko wirklich wert?

Berlin, 27/06/22