Ein Beitrag von Alma Kupferberg (12. Jahrgang). Der Text entstand als Beitrag im Grundkurs geschichte Q4 (Kursleitung: Hr. Lang).
Der politisch-philosophische Radiobeitrag „Erziehung nach Auschwitz“ von Theodor W. Adorno [1], einer der wichtigsten Philosophen der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit und Stichwortgeber der 1968iger Generation, befasst sich, wie der Titel bereits andeutet, gut zwanzig Jahre nach der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz mit der Aufgabe von Erziehung. Es ist ein pädagogischer Text, der die Erziehung und die Erziehungswissenschaft maßgeblich geprägt hat und bis heute besprochen und vielfach – auch von Politikern – zitiert wird. [2]
Adorno beginnt seine Ausführung mit einem klaren pädagogischen Auftrag: „Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, daß ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, daß man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat. Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug.“ [3]
Dieser Auftrag bezieht sich nicht allein auf ein abstraktes Ideal, sondern nimmt ein konkretes katastrophales Ereignis – die Vernichtung der europäischen Juden – als geschichtliche Grundlage auf, um über eine Erziehung nachzudenken, die eben diese und vergleichbare Gewaltverbrechen zu verhindern hat: „Jede Debatte über Erziehungsideale ist nichtig und gleichgültig diesem einen gegenüber, daß Auschwitz nicht sich wiederhole. Es war die Barbarei, gegen die alle Erziehung geht. Man spricht vom drohenden Rückfall in die Barbarei. Aber er droht nicht, sondern Auschwitz war er; Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern.“ [4]
An diesem Zitat zeigt sich auch eine Bezugnahme auf zeitgenössische Ereignisse. Adorno spielt indirekt auf eine Vielzahl von antisemitischen Straftaten in den 1950iger Jahren an, die ihn, der selbst als Verfolgter des Nationalsozialismus ins Exil gehen musste, sehr beunruhigten. [5]
In dem Radiobeitrag geht es ihm nicht so sehr darum, über die Opfer der Verbrechen zu sprechen, sondern darüber, wie Erziehung und Sozialisation dazu beigetragen haben, dass dieser industrialisierte Massenmord stattfinden konnte. Er wendet sich den Tätern zu. [6] In deren Sozialisation erkennt er das Ergebnis einer ideologischen Erziehung, die Härte, Hörigkeit und Abhängigkeit seit dem Kleinkindalter forderte, hingegen Schwäche und Ängste verurteilte und verbot und Selbstständigkeit in Handeln und im Denken unterdrückt hat. Adorno greift hier auf psychoanalytische Konzepte Sigmund Freuds und Erich Fromms zurück. Gerade letzterer und er selbst haben in den 1930iger und 1940iger Jahren das Konzept des „autoritären Charakters“ herausgearbeitet: Kontrolle, Feindseligkeit, Empathielosigkeit, Gewaltbereitschaft, Unterwürfigkeit und Abwertung von anderen Vorstellungen, Lebensweisen und Menschen sind einige Einstellungen, die diesem „Charakter“ zu eigen sind und antidemokratische und diktatorische Herrschaft unterstützen. [7]
Aber nicht allein subjektiv und individuelle Faktoren führten, so Adorno, zu „Auschwitz“. Auch gesellschaftliche Bedingungen förderten die nationalsozialistische Gewaltherrschaft. Adorno nennt hier den seit dem Kaiserreich erstarkenden Nationalismus als Bedingung für Gewaltbereitschaft und die „Kollektivierung“ der Individuen. Auch die zunehmende „Technisierung“ vieler Lebensbereiche bewertet Adorno als problematisch, da diese die „Kälte“ zwischen den Menschen forciere. [8] Adorno schließt seinen Aufsatz mit der Feststellung und nimmt damit nochmals seinen ersten Satz auf: „Aller politische Unterricht endlich sollte zentriert sein darin, daß Auschwitz nicht sich wiederhole.“ [9]
Der publizierte Radiobeitrag gibt wichtige Impulse für eine Erziehung zur Demokratie und befasst sich vor allem, aber nicht ausschließlich, mit wichtigen gesellschaftlichen und vor allem psychologischen Faktoren. Er ist bis heute aktuell, weil einige Faktoren unter anderen historischen Bedingungen fortbestehen. Dazu gehören Abstiegsängste bzw. die Sorge vor Armut, das Erstarken von rechten Parteien, die diese Sorge ausnutzen und antidemokratisches und nationalistisches Denken popularisieren (vgl. die „Montagsdemonstrationen“, „Querdenker“-Bewegung). Auch das Erstarken von Antisemitismus vor allem im Internet, des Rassismus und der Homophobie kann beobachtet werden. Des Weiteren benennt Adorno den technischen Fortschritt, der nicht nur positiv zu bewerten sei. Gerade in der Bildung und im Alltag sollte der Mensch Menschen begegnen, um Wärme, Solidarität und überhaupt Freundschaft zu erfahren. Nur so entgehen wir der von Adorno erwähnten ‚Kälte‘ und ‚Härte‘.
Der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik schreibt 2008: „Es war … Adorno, der jenen Intentionen, die einer Erziehung und Bildung im Hinblick auf den Nationalsozialismus bis heute ihre bisher unübertroffene Artikulation gegeben hat.“ [10]
Eine Weiterführung und Aktualisierung Adornos Forderungen, so Brumlik, bestehe darin, nicht nur „nach Auschwitz“, sondern „über Auschwitz“ nachzudenken und das historische Wissen darüber zu vermitteln. Adorno wurde, so kann gesagt werden, ein wichtiger „Stichwortgeber einer ganzen Generation von Pädagogen nach 1968.“ [11] Diese haben ihre pädagogischen Konzepte auf den Appell Adornos hin ausgerichtet. Damit hatte Adornos Vortrag besonders die zweite Generation geprägt, die ihr Wissen und ihren Auftrag an die dritte Generation weitergegeben hat. Ob dieser Auftrag weiterhin Bestand haben wird, wird sich in unserer Generation noch erweisen.
Wird sich Adornos Auftrag auch als Bestandteil unserer Generation erweisen?
[1] Der Essay wurde als Vortrag am 18. April 1966 im Hessischen Rundfunk gesendet und 1967 im Band Zum Bildungsbegriff der Gegenwart abgedruckt. Vgl. online unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Erziehung_nach_Auschwitz (Zugriff am 20.Januar 2023).
[2] Vgl. z.B. Ansprache des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse zur „Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus“ am 27. Januar 1999 im Deutschen Bundestag, online unter https://www.hagalil.com/archiv/99/01/thierse.htm (zugriff am 21.01.2023).
[3] Theodor W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz, in: ders., Erziehung zur Mündigkeit, Vorträge und Gespräche mit Hellmuth Becker 1959-1969, hg, v. Gerd Kadelbach. Frankfurt am Main 1970, S. 88-104, hier S. 88.
[4] Ebd., S. 88.
[5] Steffen Kailitz, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland: Eine Einführung. Springer VS, Wiesbaden 2004, zit. n.: https://de.wikipedia.org/wiki/Erziehung_nach_Auschwitz, (Zugriff am 23.01.23)
[6] Theodor W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz, S. 90.
[7] Theodor W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz, S. 98.
[8] Theodor W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz, S. 100f.
[9] Theodor W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz, S. 104.
[10] Micha Brumlik, „Dass Auschwitz sich nie wiederhole…“ Pädagogische Reaktionen auf Antisemitismus, online unter: https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/41277/dass-auschwitz-sich-nie-wiederhole/#:~:text=Frankfurter%20Sozialwissenschaftler%20Prof.-,Dr.,Erziehung%20%C3%BCber%20Auschwitz“%20ausmacht.&text=Es%20war%20Theodor%20W.,bisher%20un%C3%BCbertroffene%20Artikulation%20gegeben%20hat (Zugriff 21.01.23)
[11] Vgl. „Erziehung nach Auschwitz in einer pluralen Gesellschaft“, online unter: https://aktuelles.uni-frankfurt.de/forschung/erziehung-nach-auschwitz-in-einer-pluralen-gesellschaft/ (Zugriff am 06.02.23).