Rede zur Abiturzeugnisverleihung
von Samir Suliman – Abiturient der Fichtenberg-Oberschule 2023
9. August 2021, Beginn des Schuljahres 2021/2022. Ich saß 20 Minuten vor Beginn bereits vor der Schule und war aufgeregt. Der Beginn von etwas Neuem lag in der Luft. Für mich war es ein Neuanfang an einer neuen Schule, für ein paar andere aus dem Jahrgang auch, für alle war es aber das neue Kapitel: „Oberstufe.“
Das erste, was ich gehört hab, war Quimey die mit ihren Freund*innen redete und meinte: „Ich hab gar kein Bock auf diesen Jahrgang, ich werde keine neuen Freundschaften schließen, ich hab euch und der Rest soll mich nicht anpissen.“
Vielversprechend, oder?
Quim und ich sind friends geworden. Sie und ich haben noch so viele andere Liebmenschen gefunden, die hier auch gerade sitzen. Ein paar Freundschaften, die ein Leben lang halten werden, sind an der Fichte entstanden. Andere von ihnen haben ein Verfallsdatum, das geknüpft ist, ans Ende unserer Schulzeit. Aber das dezimiert nicht den Wert dieser Freundschaften.
Nach ein bisschen herumfragen komme ich zum Schluss, dass fast alle die Oberstufe besser fanden als die Mittelstufe. Umso dankbarer können wir sein, dass unsere durch so viele geile Menschen geprägt wurde.
Geprägt von Bierball am Donnerstag um 14:30 Uhr im Hundepark.
Geprägt von Freistunden, in denen man gemeinsam Döner essen gegangen ist, gekickert hat, gelernt hat oder auf den Sitzsäcken gechillt hat.
Geprägt von Bingo spielen mit Aussagen einer gewissen Lehrkraft.
Geprägt von Pausen auf der Q4-Crack-Couch, die uns leider wieder entwendet wurde, aber tief in unserem Herzen für immer einen Platz hat.
Geprägt von der Mottowoche und dem Abi-Streich.
Geprägt von einer gewissen anderen Lehrkraft, die einen interessanten Style hatte und sich nach dem Unterricht mit Schüler*innen einen ***** gegönnt hat.
Geprägt durch Lachanfälle und Unglauben darüber, dass jemand vor die Schule gekackt hat.
Geprägt davon mitzubekommen, dass der neue Flügel einen Tag nach unserer letzten Prüfung eröffnet wurde.
Geprägt von bescheuerten Streitigkeiten im Jahrgangschat, die aber zumindest immer für Unterhaltung gesorgt haben.
Geprägt davon Mini-Games aufm Handy zu spielen, während der Geschichtslehrer mit fragwürdigen politischen Ansichten einen Monolog hält.
Geprägt von einigen LKs, die sich fast wie Familien angefühlt haben.
Aber eben vor allem, wie bereits gesagt – geprägt durch euch. Durch uns.
Eine Zeit, des puren Stresses, wo nach der Klausurenphase, vor der Klausurenphase bedeutete, aber die meisten dennoch ganz gern gekommen sind, für Momente wie diese. Und für die Leute, mit denen man diese Momente teilte.
Ein schlauer Philosoph (homophobes, rassistisches und sexistisches Arschloch, wie viele seiner Zeit: Immanuel Kant) hat mal sehr viele schlaue Dinge gesagt. Allerdings hat er wie ein Hund geschrieben, weshalb Pauli und ich probiert haben für eine Hausaufgabe alle Nebensätze zu streichen, um wenigstens die Hauptaussage seines Satzes zu verstehen. Es ist rausgekommen: „Der gute Wille ist nicht.“
Wir bezweifeln, dass er das wirklich sagen wollte, aber, dass der gute Wille nicht ist, wurde ein Insider für Pauli und mich, der uns diese fast zwei Jahre begleitet hat. Und jetzt endet diese Zeit und irgendwie ist der gute Wille doch. Er ist in der Gemeinschaft. Er ist in unserem Jahrgang. Wir wurden alle zum Abi zugelassen, ich weiß noch, wie sehr mich das gefreut hat, und nun sitzen wir hier mit unserem Abi in der Tasche. 12 Jahre Schule hinter uns – für einige 11, 13 oder 14 – ein Test für die Nerven und harte Arbeit.
„Ihr seid jetzt in der Oberstufe, fangt keine neuen Hobbies an, Schule geht vor, es wird ernst“, meinte Herr Lang am ersten Tag der 11. Klasse.
Aber wir haben es geschafft. Zusammen. Der Abiturjahrgang 2023, der das erste Mal Prüfungen ablegen musste, weil die Prüfungen in Klasse 10 durch Corona davor ausgefallen waren. Alle unfassbar nervös, aber trotzdem erschienen! Weil alle anderen es auch sind. Und weil es ein Gefühl von Sicherheit und Solidarität vermittelte, dass dieses Gefühl kollektiv geteilt wird und dass jede Person aus diesem Jahrgang sich der Herausforderung trotzdem stellte, mit dem Ziel im Blick, jetzt heute hier sitzen zu können. In diesem gemieteten Saal, weil die Aula immer noch nicht fertig ist.
Ein weiterer schlauer Mann, Troy Bolton aus High School Musical, meinte nämlich mal: „We’re all in this together.“ Während unsere Oberschul-Zeit zwar sicherlich nicht wie die aus High School Musical war, hatte er damit recht.
Als Jahrgang sind wir sehr dankbar für ein paar Menschen, die uns durch das Abitur geleitet haben.
Ich bitte um einen riesigen Applaus für alle, die ich nun zu mir auf die Bühne bitte, beginnend mit der Legende mit den gelben Jordan’s, der Numero Uno Repräsentant dieser Schule:
Herr Golus-Steiner
Seine rechte Hand: Herr Sambanis
Die Person, die an Tagen der Abiturprüfungen gestresster war als wir, woran man merkt, wie viel ihr daran liegt, dass alles reibungslos für uns läuft: Frau Franke
Die Person, die – mit Frau Franke – die Oberstufe wirklich bis auf die letzte Koordinate genau koordiniert hat: Herr Lang
Und last but not least – die Person, die jeden Tag dafür gesorgt hat, dass die Schule intakt ist: Frau Saunar
Im Namen des gesamten Jahrgangs sage ich Ihnen von ganzem Herzen Danke.
Außerdem geht ein riesiger Dank an alle Lehrkräfte von denen wir nachhaltig gelernt haben, die an uns geglaubt haben, uns inspiriert haben, unsere Schul-Experience versüßt haben und auf Augenhöhe mit uns waren, obwohl sie Autoritätspersonen waren. Ich hoffe, dass sich allen hier anwesenden Lehrpersonen dessen bewusst sind, was für eine Verantwortung mit diesem Beruf einhergeht und wie stark Sie das Leben von Ihren Schüler*innen prägen. Ob positiv oder negativ.
Last but not least danken wir der Baustelle, ohne die wir nicht so ein schönes und beständiges Hintergrundgeräusch in unserer Lernatmosphäre gehabt hätten.
Wer je einen Kurs mit mir hatte, weiß, dass ich es immer schaffe, über soziale Ungerechtigkeit zu reden. Mir ist durchaus bewusst, dass mindestens ein Drittel genervt davon ist und ein weiteres Drittel diese Themen als irrelevant ansieht, weil ihr mir das oft genug spiegelt, allerdings erkenne ich ein Muster bei den Leuten, denen es lieber wäre, wenn Menschen wie ich meine Klappe halten und da genau diese Menschen sonst einen sehr unproportional großen Redeanteil im Leben haben, selten ihre Privilegien hinterfragen und diese nie zum Guten nutzen, ist es umso wichtiger, laut über diese Themen zu reden. Wenn ihr euch dabei angegriffen oder unwohl fühlt, seid genau ihr gemeint.
Und da niemand anderes eine Rede halten wollte, habt ihr wohl keine andere Wahl als mir zuzuhören. Schade.
Mein Abi ist durchschnittlich und ich habe oft mit dem Gedanken geliebäugelt die Schule abzubrechen, aber dennoch war es ein riesiges Privileg für mich Abi machen zu dürfen, das ich niemals für selbstverständlich genommen hab, denn ich bin die erste aus meiner Familie und statistisch gesehen ist es ein Sonderfall, dass das Migranten-Kid aus der Arbeiterfamilie zukünftig einen akademischen Weg einschlagen kann.
Wenn ich jetzt schon hier oben bin, nehme ich mir mal die Freiheit einen persönlichen Dank auszusprechen. Und zwar an meine Familie. Ich bin kein Mensch der sagt „Familie über alles“, da ich nie das beste Verhältnis zu meiner Familie hatte. Mein Vater zum Beispiel ist heute nicht hier.
Umso dankbarer bin ich für meine vier kleinen Geschwister, die eigentlich immer aber vor allem in den letzten zwei Jahren neben meinen engen Freund*innen und meiner Betreuerin Candy meine größten Cheerleader waren und vor allem für meine Mama, die immer für mich dagewesen ist und mich unterstützt hat, egal was für Noten ich nach Hause gebracht hab.
Mama, es war eine große Motivation das ganze hier durchzuziehen, um dich stolz zu machen, obwohl du es sowieso wärst. Ich habe mein Abi nicht nur für mich gemacht, sondern auch für dich, weil du damals die Unterstützung und Zeit nicht hattest. Für dich und um Emin und Nura unterstützen zu können, wenn sie ihr Abi beginnen und für Kerim und Zekeriya, falls sie sich auch dazu entscheiden.
Falls andere Menschen mit ähnlicher Erfahrung hier sitzen, die Struggles in der Schule hatten, die unsichtbar wirkten; egal ob es eine mentale oder chronische Krankheit sei, der Verlust einer geliebten Person, nebenher Lohnarbeit und/oder Care-Arbeit betreiben müssen, um sich oder die Familie über Wasser zu halten oder wie bei mir die Erfahrung als migrantische Person und Arbeiter*innen-Kid, oder was ganz anderes – ich kenne ja nicht alle eure backstories – dann Hut ab. Ihr dürft euch echt selbst auf die Schulter klopfen. Ihr habt euer Abi!
Ich war so glücklich, als ich den Platz an der Fichte bekommen hab, als ich dann an die Schule gekommen bin, habe ich gesehen, dass ich wahrscheinlich einfach Steiners Quoten-Kanacke bin (ohne hier irgendwas unterstellen zu wollen!). Ein Gymnasium in Steglitz halt. Deshalb ist es so wichtig, uns bemerkbar zu machen, denn in der weißen Mehrheitsgesellschaft, wo es für die meisten selbstverständlich ist, Abitur zu machen, kann man leicht untergehen. Theoretisch sollten alle in Deutschland dieselben Bildungschancen haben, praktisch ist das aber noch eine weitentfernte Utopie. Sehr weitentfernt.
Ich hoffe, ihr seid so stolz auf euch, wie ich es bin. Wenn in jemandes Leben so viel abgeht, dass Schule nicht die oberste Priorität ist, hat man in der Regel keinen glänzenden Einser-Schulabschluss mit Sternchen und dann bekommt man in der Regel keinen Extra-Applaus, Blumen oder Stipendien geschenkt. Find ich persönlich scheiße, aber wie gesagt, vieles davon ist unsichtbar. Und in vieles davon wird man reingeboren und kommt aus dem System ein Leben lang nicht raus, egal, wie hart man arbeitet. Dass wir heute hier sitzen, ist demnach ein riesiger Erfolg. Also bitte ich euch jetzt um einen lauten Applaus – einen Applaus, den man bis zur Fichte hört – für jede Person, die sich eben angesprochen gefühlt hat.
Der Rest darf natürlich aber auch sehr stolz auf sich sein, denn auch wenn viele Menschen mehr Unterstützung im Schulalltag genossen haben, wurde uns das Abi allen nun wirklich nicht hinterhergeworfen und für alle von uns ist es eine Leistung, auf die wir stolz seien können und sollten. Es ist ein Grund zu feiern! Und wenn dieser Jahrgang irgendwas gut kann, dann feiern.
Wo sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere. Ich weiß, dass es ein Kalenderspruch ist, aber darin steckt nun mal so viel Wahrheit.
Für viele ist das das letzte Mal, dass wir uns alle sehen. Der Abiball kommt noch, aber da sind ja zumindest die Lehrkräfte auch nicht alle dabei (und viele werden so besoffen sein, dass man sich eventuell nicht an alles erinnern werden kann).
Das ist natürlich auf der einen Seite traurig und löst ein wehmütiges Gefühl aus. Aber auf der anderen Seite, ist das etwas Großartiges. Es ist wieder der Anfang von etwas Neuem, der Anfang von etwas ganz Großem. Und es ist auch okay, sich erstmal vielleicht ein bisschen verloren zu fühlen – ihr findet euren Weg. ich wünsche euch viel Spaß und viel Erfolg dabei. Unser aller Leben beginnt erst jetzt richtig! Viele von uns werden über den ganzen Globus verteilt sein. Aber letzten Endes ist die Welt doch ziemlich klein. Und wenn unsere Wege sich doch kreuzen, werden wir einander anlächeln und an diese Zeit zurückdenken.
Lieber Fichte-Abiturjahrgang 2023, danke für die geteilte und – zum größten Teil – geile Zeit!