Eine Rezension von Alina Gelen und Saniya Fu (LK Deutsch Q3, Fr. Schubert).
Am Berliner Ensemble ist Büchners Woyzeck ein psychisches Wrack. Ersan Mondtag verortet seinen Woyzeck in einen Bund der toxischen Männlichkeit.
An einem düsteren Teich sitzt er, schlaksig, verirrt und mit gesenktem Kopf: Woyzeck. Der eiserne Vorhang hebt sich und gibt den Blick auf die Szenerie frei. Um eine Lagerfeuerstelle gruppieren sich ein paar einfache Zelte, rechts steht ein hölzerner Hochstand, wie ihn Jäger benutzen.
Am Berliner Ensemble verortet Ersan Mondtag seinen Woyzeck in ein kleines Camp im Wald. Am 23.09.2023 war die Premiere dieses spannenden Experiments. „Und so taumelt Woyzeck – trotz seiner aufrechten Mühe, ein guter Mensch zu sein – am Ende Richtung Abgrund in einer Gesellschaft, die ihm keinen Halt im Leben gibt“, erklärt der Regisseur und trifft so den Nagel auf den Kopf.
Eine atemberaubende Szenerie, welche der Regisseur Ersan Mondtag selbst entworfen hat. Verblüffend! Ein Bühnenbild mit einer wahrhaftig schaurig schauerlichen Atmosphäre, welche die Tragik der Handlung treffend einfängt. Besonders ein kleiner Teich, an welchem die tragische Handlung ein grausames Ende finden soll, stellt ein grandioses Element im Bühnenbild dar. Im Verlauf der Handlung ertrinkt der Teich förmlich selbst in einem Blutbad.
Zwischen Pseudomoral und Ohnmacht
Klug, den Arzt im Verlauf der Handlung Tiere ausweiden zu lassen. Zwar an der Grenze des Geschmacks, die pseudomoralische Rolle wird allerdings herrlich widerlich verkörpert. Der Tambourmajor, der eine Aggressivität ausstrahlt, die selbst die Zuschauer:innen im Theatersaal verängstigt. Selbstverliebt, aufgeblasen und einfach arrogant räkelt er sich am See und zieht damit die Aufmerksamkeit Maries auf sich. Eine Turtelei, die von dem erschreckenden psychischen Zerfall Woyzecks begleitet wird. Verirrt, verwirrt, verloren. Die schauspielerische Leistung Maximilian Diehles in der Rolle des Woyzecks ist wahrhaftig ein Augenschmaus. Schade allerdings, dass die Bedeutung des sozialen Konflikts und des Frauenbilds vollkommen untergehen. Alle Figuren essen und singen abends gemeinsam am Lagerfeuer. Eine vermeintlich charmante Szene und willkommene Abwechslung zur sonstigen Tragik des Stückes. Doch passen tut sie nicht: Wo bleibt die gesellschaftliche Hierarchie? Die Arroganz und der Übermut des Hauptmanns, des Doktors auf der einen Seite; die erwürgende Armut Woyzecks und Maries auf der anderen Seite?
Ein Konzept an ihrer Grenze
Marie trägt Vollbart. Zwar sind die Beweggründe Mondtags, das Augenmerk solle vor allem auf der männlichen Toxizität im patriarchalen System liegen, nachvollziehbar. Dennoch erscheint es fragwürdig. Denn so rückt er zwar Woyzeck in das Spotlight des Stückes, muss allerdings aufpassen, die Bedeutung der Tat nicht zu relativieren, Stichwort Femizid. Mondtag allerdings entschied sich dazu, durch das männliche Ensemble nicht explizit Gewalt gegen Frauen zu demonstrieren, sondern Gewalt gegen Menschen im Allgemeinen.
Eine Interpretation, die alle Zahnräder im Gehirn in Bewegung versetzt
Gegen Ende der Inszenierung treten alle Schauspieler in verformten „Körperanzügen“ auf. Sonderbar und zunächst unverständlich. Ein Versuch, die verzerrte Wahrnehmung und den Realitätsverlust Woyzecks darzustellen? Oder doch eher ein Versuch, die Verrohung der Gesellschaft, eine Unmenschlichkeit, zu illustrieren? Die Inszenierung Mondtags wirft zahlreiche Fragen auf, die Stoff für Diskussionen bieten. Und genau dies macht das Stück besonders: Neue Perspektiven, neue Interpretationen.
Spotlight auf Woyzeck, Hubschraubergeräusche, eine herunterfallende Strickleiter. Der eiserne Vorhang verschließt sich vor einem Publikum mit tausend fragendenden Gesichtern.
Eine Achterbahn der Wahrnehmung
Ersan Mondtags Woyzeck ist ein äußerst gesellschaftskritisches Stück, dass die Mitverantwortung der Gesellschaft an der Schuld des Individuums betont. „Ein psychisches Wrack“, definitiv die richtige Beschreibung, um den durch Maximilian Diehle verkörperten Woyzeck zu beschreiben. Ob gelungen oder nicht, langweilig wird einem beim Anschauen dieses Spektakels sicherlich nicht.