Allgemein, Geschichte

9. November- ein Tag, viel Geschichte

Foto: Lear 21 in der Wikipedia auf Englisch (CC BY-SA 3.0: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)
URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Berliner_Mauer#/media/File:Thefalloftheberlinwall1989.JPG

Ein Artikel von Resa (Q3)

Der 9. November ist ein wichtiger Tag in der deutschen Geschichte über mehrere Systeme hinweg. Am 9. November gedenken wir nicht nur der Reichspogromnacht, sondern auch dem Fall der Mauer. Vergessen wird dabei jedoch häufig, dass diesen Ereignissen ein drittes vorausgeht, nämlich die zweimalige Ausrufung der Republik 1918.

1918
Nach der Abdankung des Kaisers durch den Reichskanzler Max von Baden begann kurz nach dem Ersten Weltkrieg der Kampf um die Neuorganisierung des Deutschen Reiches. Es kam zur Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten in vielen großen Städten Deutschlands.
Am 9. November 1918 kam es zur zweimaligen Ausrufung der Republik, erst durch Philipp Scheidemann von der SPD aus dem Berliner Reichstag und kurze Zeit später durch Karl Liebknecht, Führer des Spartakus-Bundes, der eine sozialistische Republik vom Berliner Schloss aus ausrief. Er und andere Revolutionäre*innen befürworteten eine sozialistische Räterepublik in Deutschland nach sowjetischem Vorbild. Straßenkämpfe u.a. in Berlin waren im Zuge der Novemberrevolution ausgebrochen, was dazu führte, dass die Neukonstituierung des Staates nach Weimar verlegt wurde. Dies führte zum Namen der neuen „Weimarer Republik“.

1938
Deutschland brannte in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938. „91 Tote, 267 zerstörte Gottes- und Gemeindehäuser und 7.500 verwüstete Geschäfte – das war die „offizielle“ Bilanz des Terrors.“[1] Der menschenverachtende Antisemitismus hatte eine neue Stufe erreicht, jüdische Geschäfte und Synagogen wurden in Brand gesetzt. Angeführt wurde diese Welle der Gewalt durch SA und SS. Trotzdem bezeichnete die NSDAP die Pogrome „als berechtigte und verständliche Empörung des deutschen Volkes“[2] und fand darin die Legitimation, weitere Verbrechen gegen die jüdische Bevölkerung aber auch viele weitere Menschen begehen zu können. Zuvor hatten die Nazis im Jahr 1935 die Nürnberger-Gesetze verabschiedet, welche die Rechte der jüdischen Bevölkerung massiv einschränkten.

Inge Deutschkron beschreibt in „We survived Berlin Jews Underground“ wie sie die Tage um den 9. November 1938 erlebt hat:
„Am Nachmittag des 9. Novembers erreichte uns die Nachricht von verängstigten Freunden, dass einige ihrer Angehörigen verhaftet wurden, und im Radio hieß es, dass spontane Aufstände u.a. jüdische Geschäfte zerstört hatten. Augenzeugen berichteten, dass die Polizei nicht intervenierte, als die Zerstörer wüteten. Für die Nazis lief zu dem Zeitpunkt alles nach Plan. Am Morgen danach war die Hölle in Berlin ausgebrochen, der Ku’damm lag in Schutt und Asche und mit Äxten bewaffnete SA-Männer liefen durch die Straßen.“ [3]

Früher nannte man die Reichspogromnacht „Reichskristallnacht“ aufgrund der vielen zerstörten Fenster jüdischer Geschäfte. Später entschied man sich der euphemistischen Rhetorik, die die Nacht sowie das Leid, das sie hervorgebracht hat, verstellt, den Rücken zuzukehren und die Verbrechen, die in der Nacht vom 9. zum 10.11. begangen worden sind, als das zu betiteln, was sie sind: ein Pogrom.

1989
Am Abend vorher noch war die junge Studentin der Germanistik und Philosophie mit Freund*innen trinken gewesen und als sie sich schlafen legte, war alles wie immer. Sie ging ins Bett wie immer. Die Mauer stand verschlossen ganz in ihrer Nähe (, was in dem kleinen Westberlin nicht schwer war -früher oder später traf man immer auf die Mauer), wie immer.  Mitten in der Nacht wird sie durch lautes Gehupe aus dem Schlaf gerissen, doch sie konnte ihren Augen nicht trauen, auf dem Platz unter ihr waren Trabbis, lauter Trabbis. [4]  Sofort schaltete sie den Fernseher ein und rief ihre Freundin in Reinickendorf an. Mitten in der Nacht saßen die beiden nun mit der Hand am Hörer vor dem Fernseher und staunten nicht schlecht – die Mauer war tatsächlich geöffnet worden.  Ein paar Stunden später hatten sich die beiden verabredet und gingen gemeinsam mit einem mulmigen Gefühl durch das Brandenburger Tor, um sich Ost-Berlin anzugucken und einmal das Deutsche Theater von außen anzusehen. Sie waren erschüttert darüber, dass sie an teilweise zerbombten Häusern, die scheinbar nie abgerissen worden waren, vorbei kamen. Mit der Angst, die Mauer könnte wieder geschlossen werden, trauten sich die beiden allerdings nicht länger in Ostberlin zu verweilen, um ins Theater zu gehen und traten die Heimkehr an. Natürlich wurden alle und somit auch unsere Studentin weiterhin mit der Maueröffnung konfrontiert, denn sie arbeitete neben dem Studium bei Woolworth an der Kasse, dass von Kunden*innen, die ihr Begrüßungsgeld ausgeben wollten, überrannt wurde. Teilweise mussten die Filialen aufgrund von Einsturzgefahr durch den großen Andrang geschlossen werden oder der Zugang limitiert werden.
Etwas früher auf der anderen Seite der Mauer, weiter westlich von der jungen Studentin, stand ein DDR-Drittliga Spieler an der Potsdamer Glienicker-Brücke. [5] Er hatte die verfrühte Maueröffnung durch Günter Schabowski im Fernsehen gesehen und hat sich wie viele andere Potsdamer sofort auf den Weg gemacht. Nur schien die frohe Botschaft nicht bis zu den Potsdamer Beamten*innen vorgedrungen zu sein, während in Berlin die Massen von Ost- nach Westberlin strömten, verwehrte man den Potsdamern ihr neugewonnenes Recht und ließ sie nicht durch. Die allgemeine Enttäuschung, die sich an der Glienicker Brücke breit machte, führte dazu, dass wildfremde gemeinsam zum Feiern in die nächstgelegene Kneipe zogen. Am nächsten Morgen jedoch konnte auch H. Haase endlich in den Westen, wo Autofahrer*innen in Zehlendorf schon warteten, um die Menschen von der Brücke hinein in die Stadt zu fahren, da diese ja noch kein Westgeld hatten, sich nicht auskannten und daher nur bedingt mobil waren. Nach ein paar Tagen zog es den Westberlinbesucher dann aber zurück über die Brücke nach Hause, nach Potsdam, wo ein DDR-Beamter wartete, der noch nicht ganz verstanden hatte, dass es den DDR-Bürgern*innen nun endlich frei stand, die Grenze in den Westen zu überqueren. „Man wollte prüfen, ob ich etwas in die DDR einschmuggle – der Beamte hatte die Zeichen der Zeit noch nicht verstanden“, erinnert sich H. Haase und ergänzt, „heute kann ich darüber lachen.“

Am Morgen nach der Maueröffnung, an dem ganz Berlin und darüber hinaus in Feierlaune war, da der Eiserne Vorhang endlich gefallen war, gab es auch viele, die gar keine Zeit zum Feiern hatten. Am Morgen des 10. Novembers fuhr ein Westberliner Feuerwehrmann ganz normal, um 6.30 Uhr, zu seiner Dienstelle, der Branddirektion in Charlottenburg-Nord. Er schaltete sein Radio ein und dachte zunächst, einer der Moderatoren*innen würde sich einen Scherz erlauben; die Mauer sei geöffnet worden. In seiner Dienststelle erfuhr er, all das war kein Scherz. Ein Krisengipfel der Berliner Feuerwehr war für den Morgen angesetzt; was passiert bei einem großen Menschenandrang? Wo müssen vorsichtshalber Notfallfahrzeuge in der Stadt stationiert werden? Und was zur Hölle passiert, wenn es an der Grenze, bspw. am Brandenburger Tor zu einem Feuer auf der Ostseite kommt und die Westberliner Feuerwehr zwar Vorort ist, aber einen gesetzwidrigen Staatsübertritt riskieren müsste, der als Reaktion vielleicht die Schließung der Mauer zur Folge hätte? Fragen über Fragen. Eine komplett neue Situation, mit der niemand gerechnet hatte, war zu bewältigen, Aufgaben mussten verteilt werden und alle waren ständig in Alarmbereitschaft. Der Feierabend war erstmal für viele im Öffentlichen Dienst gestrichen. Viele zog es zum Ku’damm, wo glücklich und ausgelassen gefeiert wurde. Alle waren erstmal einfach nur froh und alles verlief friedlich. Keine Katastrophe. Endlich Feierabend.

[1] URL: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/ausgrenzung-und-verfolgung/novemberpogrom-1938.html

[2] Zit.n. Carola Jünning, DHM 2009: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/ausgrenzung-und-verfolgung/novemberpogrom-1938.html

[3] Übersetzung nach: Inge Deutschkron, „We survived Berlin Jews Underground“ in German Resistance 1933-1945, German Resistance Memorial Center/ Gedenkstätte deutscher Widerstand (Hrsg.), S. 17.

[4] Trabant: die allgemeine und beinah einzige Automarke in der DDR.

[5] An der Brücke zwischen Zehlendorf und Potsdam fanden jahrelang die Agentenaustausche zwischen Ost und West statt.