Allgemein, Geschichte, Schule ohne Rassismus

Rede zum Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft

Appellplatz des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück (heute Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück)

Die hier dokumentierte Rede wurde von Leonie Kern (Q2) im Rahmen der Gedenkfeier der „Initiative KZ-Außenlager Lichterfelde e.V.“ anlässlich des Tages der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft am 8. Mai 2017 gehalten.

Sehr geehrte Damen und sehr geehrte Herren,

mein Name ist Leonie Kern. Als ich gefragt wurde, ob ich eine Rede halten wollen würde zu der heutigen Gedenkfeier, fühlte ich mich etwas überrumpelt. Doch kurz danach schon wurde mir bewusst, dass es vieles gibt, was ich sagen möchte.

Eine kleine Anekdote aus meinem Leben: Während meines Auslandsjahres in Kanada sprach ich mit einem Jungen, der kurz nachdem ich sagte, dass ich aus Deutschland käme, seinen Arm hob und Hitler parodierte. Ich wies ihn darauf hin, dass ich Jüdin sei und es abgesehen davon auch sehr respektlos ist, nur aufgrund meiner Herkunft, Schlüsse über meine politische Gesinnung zu ziehen. Nach mehreren Minuten, in denen er sich entschuldigte, schaute er mich an und fragte mich betreten, wie es denn überhaupt möglich ist, in Deutschland zu leben und eine Jüdin, zugleich aber auch eine Deutsche zu sein. Für ihn schien es wie ein Widerspruch in sich.
Im ersten Moment war ich schockiert. Im zweiten belustigt. Doch nach und nach kam ich zu dem Schluss, dass dieses fehlende Wissen und der fehlende Respekt ganz alltäglich sind.

Ich stehe hier mit Ihnen zusammen und schaue zurück auf eine Zeit von unendlicher Trauer, nicht enden wollenden Demütigungen, Verfolgung, Weg-Schauen, Weg-Hören, Barbarei und Unmenschlichkeit.
Tage des Gedenkens und auch der Trauer, wie der heutige, halte ich für unendlich wichtig. Für viele Menschen ist Trauer durchgehend präsent. Man kann Trauer nicht an- und wieder ausschalten. Sie überfällt einen. Sie ist unvorhersehbar.
Trauer kommt nicht nur bei den Opfern auf, sondern auch bei deren Kindern und Kindes-Kindern.

Ich bin durch meine Familiengeschichte sowohl als Täterin als auch als Opfer zu deklarieren. Doch genau dieses Schubladendenken ist das, was den kanadischen Jungen und manch anderen wohl so durcheinanderbringt.
Ich bin kein Opfer. Und Deutschland ist keine Nation von Tätern.
Viel mehr ist Deutschland mittlerweile an einem Punkt angelangt, an dem jemand wie ich vor Ihnen stehen kann und diese Worte sprechen darf. Das ist eine Errungenschaft der Demokratie. Genau deshalb, sollten wir diese erhalten und heute nach vorne und nicht nur zurück schauen.

Wir dürfen nicht vergessen, dass sich die Anfänge des sogenannten Dritten Reichs in Wahlen finden lassen und das Fortschreiten des Grauens durch ein Nicht-Handeln und Nicht-Sehen-Wollen zugelassen worden ist.
Ein Sprichwort besagt, dass es reicht, wenn das Gute nichts tut, damit das Böse gewinnt. Und es ist genau das, was damals geschehen ist.

Bei all der Trauer sollten wir weder das tapfere Handeln vieler, häufig stiller, Helden vergessen, noch den offenen Widerstand Einzelner, welcher nicht selten mit dem Tod gestraft wurde.

Wir können den Lauf der Geschichte heute nicht mehr ändern. Doch eines können wir tun. Wir können die Weichen für die Zukunft sehr sorgfältig stellen und so verhindern, dass ein solches Grauen erneut zustande kommt.
Sagen wir: Nein zu Diskriminierung. Nein zu Vorurteilen. Und Nein zu Fremden-Hass.

Manchmal ist es wichtig, dass wir dies herausschreien, damit es alle mitbekommen. Und manchmal ist es auch wichtig, im Stillen zu handeln.
Dabei ist es egal, ob man bei einer Demonstration mitläuft oder einen fremdenfeindlichen Sticker von einem Laternenpfahl abreißt.
Keine gute Tat ist unwichtig. Und keine gute Tat bleibt ohne Wirkung.
Solche gute Taten beschreiben den Begriff Zivilcourage. Doch Zivilcourage bedeutet nicht nur offensichtlich zu handeln, sondern auch Unspektakuläres, wie das Wählen einer Regierung, die für Demokratie und ein Egalitätssystem eintritt. Eine Regierung, die für ein Miteinander und kein Gegeneinander steht.

Wir haben das Privileg wählen gehen zu dürfen. Und ich sehe es als meine Pflicht an, dies auch zu tun. Jede Stimme zählt. Heutzutage genauso sehr, wie zu anderen Zeiten.
Wenn man umher schaut in andere Länder, so sieht es teilweise nicht gut aus für unsere Vorstellung eines demokratischen Staates, der sich dem Gleichheitsprinzip verschrieben hat.
Auch in Deutschland steigt die Zahl der Hass-Verbrechen, rassistische Beleidigungen scheinen Gang-und-Gebe zu sein und die Anzahl der Anhänger rechtsorientierter Parteien und Gruppierungen nimmt stetig zu. Rechtspopulisten sind auf dem Vormarsch, nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern.

So sehr ich mir auch wünsche, all das Leid und die Trauer aus der Vergangenheit rückgängig machen zu können und in der Gegenwart zu verhindern, ist es eine nicht zu bewältigende Aufgabe für eine einzelne Person. Das Hier und Jetzt zu ändern liegt bei uns allen.

Ob klein oder groß, jung oder alt, Frau oder Mann, Jude oder Christ, Moslem oder Hindu ist nicht von Bedeutung. Es zählt ob und wie wir handeln.

Denn letzten Endes ist es unmöglich einen Menschen durch seine Herkunft, seine sexuelle Orientierung oder sein Geschlecht zu definieren. Und sollten wir dies in unserer Umgebung dennoch bemerken, sollten wir hinhören, hinsehen und uns einmischen.

Abschließend möchte ich eine Stelle aus dem Talmud zitieren:
Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte.
Achte auf deine Worte, denn sie werden deine Handlungen.
Achte auf deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten.
Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter.
Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal.