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Debattenarena: Demonstrationen der Corona-Leugner präventiv verbieten? (I)

Ein Beitrag von Jakob Bilan (Q3). Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Leistungskursunterrichts Sozialwissenschaften (Leitung: Herr Steiner). Einen weiteren Beitrag zu dieser Debatte findet ihr hier.

Allen Krisen, seien sie wirtschaftlicher, politischer oder anderer Art, ist gemein, dass sie Veränderungen in der Gesellschaft hervorrufen, oftmals speziell der öffentlichen Meinung und Zufriedenheit. Zudem werden soziale Disparitäten verschärft und Konflikte geschürt. Da die aktuelle Krise, ausgelöst durch COVID-19, nicht nur stillschweigend diese starken Veränderungen bewirkt hat, sondern die Reaktion auf die politischen Maßnahmen, wie etwa das Herunterfahren des öffentlichen Lebens (milder Lockdown), die Kontakteinschränkungen und Ähnliches, eine starke Reaktion hervorgerufen haben, sind Demonstrationen, Beschwerden und Klageverfahren eingeleitet und angemeldet worden. Eine dieser Demonstrationen, am 29. August 2020, führte dazu, dass es etwa 400 Personen gelang, die Treppen des Reichstags unerlaubt zu betreten, während sie unter anderem Reichskriegsflaggen schwenkten. Nicht nur war somit die polizeiliche Kontrolle offensichtlich außer Kraft, auch die Hygiene- und Demonstrationsauflagen waren von vielen der etwa 20.000 Personen [1] ignoriert worden. Angesichts dessen und der Situation auf den Reichstagsstufen, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier „abscheulich und unerträglich“ [2] nannte, stellt sich wiederholt die Frage, ob diese Situation verhindert hätte werden können, zum Beispiel über ein Verbot im Vorfeld.

Natürlich, als eines der essenziellen Grundrechte unserer Demokratie, muss die Versammlungsfreiheit gesichert und gewahrt werden. Im Artikel 8 im Grundgesetz [3] ist verankert, was dieses Recht sichert: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. (Art. 8, Abs. 1)“ Dass diesem Recht Bedeutung zukommen muss, hoben auch Frank-Walter Steinmeier, sowie zahlreiche weitere Politiker hervor.
Auch ein zweites Grundrecht spricht gegen das Verbot: das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung (Artikel 5 im Grundgesetz). Es ist wichtig für das demokratische Prinzip und somit auch für unser System, dass die Bürgernähe zur Politik gewährleistet ist. Sorgen müssen erhört werden. Nur wenn das Volk, oder in diesem Fall einige wenige in Relation zum Gesamtvolk, Gehör findet und dies in die Politik mit einbezogen wird, erhält unser politisches System seine Legitimität. [4]
Diese Grundrechte, insbesondere die allgemeine Versammlungsfreiheit, so meinen einige, stünden über dem Verbot der Demonstration wegen Hygieneauflagen und anderen Gründen. So schreibt Markus Reuter: „Wer Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit verteidigt, muss das auch für Nazis und Verschwörungsfreaks tun. Das Verbot der Demo in Berlin ist falsch […]“ auf netzpolitik.org [5]. Ein Argument, das auf die Umsetzung der Demo eingeht, wurde von Jan Heidtmann vorgebracht: Laut ihm seien die Hygieneauflagen zwar ein Grund die Versammlungsfreiheit einzuschränken, müssten aber vor Ort durchgesetzt werden. Heidtmann argumentiert, dass dies möglich gewesen sei. [6] Dies bekräftigt auch Markus Reuter.
Durch Reuter wurde auch hervorgehoben, dass dieses Verbot als Vorlage für weitere Restriktionen stehen könnte, und damit die Einschränkung der Grundrechte normalisiert werde. Durch den einmaligen, situationsbedingten Eingriff wird, nach dieser Argumentation, die Unantastbarkeit als Prinzip dieses Rechts verletzt, was eine Signalwirkung entfalten kann. Diese Befürchtung, dass der Tabubruch weitere Einschränkungen der Grundrechte nach sich zieht, findet sich so, wenn auch in radikalerer Form, in der Argumentation vieler Corona-Leugner wieder, die eine Wirkungsmatrix hin zur Diktatur bemühen.
Letztendlich lässt sich auch aus der Kategorie der Effizienz ein schlagkräftiges Argument gegen das Verbot aufzeigen. Wie Markus Reuter verdeutlicht, bietet die Restriktion der Versammlungsfreiheit durch die Berliner Versammlungsbehörde (mit Zustimmung von Innensenator Andreas Geisel) eine Grundlage für schärfere Kritik. [7] Da das Verbot eine Rechtfertigung der Position und Weltsicht vieler Corona-Leugner aufs Genaueste darstellt, muss eine Radikalisierung der Anschauungen dieser zu erwarten sein. Somit ist auch eine höhere Gewaltbereitschaft der radikalen Teilnehmer zu vermuten und das Verbot fördert demnach auch die Spaltung und den Konflikt.

Gegen das Argument, die Einschränkung der Versammlungsfreiheit durch die Hygieneauflagen oder das Verbot seien an sich widerrechtlich, auch in dieser speziellen Situation durch die Pandemie, fügt sich Artikel 8, Absatz 2 ein: „Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.“ Zur Bekämpfung der Corona-Pandemie wurden eine Reihe von Gesetzen erlassen, darunter das „Gesetz über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie“ und das „Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht“. Somit wird auch die Einschränkung der Versammlungsfreiheit legitimiert, die mit den Hygieneauflagen (und dem Verbot) einhergeht. Die Erfahrungen mit ähnlichen Demos, sowie andere Veranstaltungen, die durch diese Organisatoren initiiert wurden, hatten gezeigt, dass die Restriktionen willentlich nicht eingehalten wurden und ließen es darum nicht anders zu, als diese Demonstration zu verbieten. [8]
Da die Beschränkungen für den Infektionsschutz obligatorisch waren und die Polizei mit deren Durchsetzung, sowie der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Wahrung der Sicherheit des Reichstags), offensichtlich zeitweise überfordert war, hätten die Demonstrationen nicht stattfinden sollen dürfen.
Das Infektionsschutzgesetz zur Verhinderung der Ausbreitung von COVID-19 ist nicht nur eine gesetzliche Vorgabe, beziehungsweise Norm, sondern stellt auch eine moralische Verpflichtung dar. Es hat zum Ziel das Leben und die Gesundheit der Menschen zu schützen, sowie die Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern (und somit auch die „Corona-Triage“ wie in Italien). Dies entspricht der freien, demokratischen Grundordnung (FDGO). In seinem Artikel erwähnte dies Christian Bangel in der „Zeit“. [9]
Darüber hinaus war die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch spezifische Teilnehmer gefährdet. Da manche Teilnehmer zuvor im Netz öffentlich kundgetan hatten, man beginne den „Sturm auf Berlin“ oder den „Sturm des Reichstages“, zum Teil auch verbunden mit absurden Verschwörungstheorien, zum Beispiel, dass Donald Trump dafür Unterstützung garantiert habe, war eindeutig, dass manche Teilnehmer verfassungsfeindlich waren und der FDGO willentlich Schaden zufügen wollen. Aus Präzedenzfällen, etwa aus dem Urteil eines Bayerischen Verwaltungsgerichtes 2011, geht hervor, dass eine derart starke Einschränkung der Versammlungsfreiheit mit der Verfassungsfeindlichkeit der Teilnehmer begründet werden könne.
Als Beobachter ergibt sich zudem nicht, wie die Gedenkveranstaltung in Hanau verboten werden konnte, während diese Demonstration stattfinden durfte. Diese ungleiche Behandlung widerspricht dem Prinzip der egalitären Behandlung vor dem Gesetz, bzw. durch die Instanzen der Verfassung.
Wie Christian Bangel verdeutlicht, dürfe die Politik keine Angst mehr vor Rechten haben und so ihre Handlungsmaximen bestimmen lassen. Das Durchgreifen in Berlin hätte mit einem Verbot sehr deutlich sein können, so wäre die Polizei stärker gebraucht worden.
Olaf Sundermeyer würde hinzufügen, dass eine konsequente Entscheidung nötig war. Insbesondere in der unklaren, unsicheren Situation durch die COVID-19-Pandemie war das Durchgreifen durch den Senat und die Versammlungsbehörde als politisches Zeichen von großer Wichtigkeit, um die klare Linie zu Corona und die von diesem Virus ausgehenden Gefahren zu betonen.
Auch muss gesagt werden, dass die Teilnehmer der Demonstration am ersten August in Berlin vorsätzlich geltendes Recht, also die Hygieneauflagen verletzten, dies betonte auch Andreas Geisel. Wörtlich hieß es von Letzterem: „Versammlungsfreiheit bedeutet nicht, bewusst gegen geltendes Recht verstoßen zu dürfen.“ (A. Geisel, 26.8.2020) Daher war es in der Konsequenz der Erwartung einer Wiederholung dieser Ereignisse richtig, die Folgedemonstration zu verbieten. [10]
Abschließend bleibt zu erwähnen, dass auf solchen Demonstrationen Bürger, die lediglich wegen einer Einschränkung der Grundrechte besorgt sind oder aus ähnlichen Gründen in Kontakt mit Rechtsradikalen, Verschwörungstheoretikern und Corona-Leugnern geraten. Somit normalisiert sich der Umgang und deren Positionen rücken stückweise in die gesellschaftliche Mitte und werden salonfähig. Um die klare Haltung gegenüber dieser Entwicklung zu bewahren und somit dem genannten entgegenzusteuern erscheint es richtig die Demonstration zu verbieten.

Letztendlich wurde deutlich, dass Grundrechte, wie die Versammlungs- und Meinungsfreiheit geachtet werden müssen, da so die Bürgernähe zur Politik erhalten bleibt. Auch ist allgemein anzuerkennen, dass eine Gefahr, sei sie auch sehr gering, besteht, dass ein einmaliges Verbot Signalwirkung haben könnte und so dies normalisieren könnte. Zudem sei die Umsetzung der Hygieneauflagen auch vor Ort kontrollierbar und das Verbot biete eine erweiterte Rechtfertigung für die Proteste und schärfere Kritik. Dennoch überwiegt die Gegenseite: Es war richtig, die Demonstration zu verbieten. Auch wenn die Entscheidung der Versammlungsbehörde Berlin und des Innensenators gekippt wurde, bleiben die Fakten, die diese Entscheidung rechtfertigten und ein ähnliches Vorgehen in Zukunft befürworten lassen. Da die Hygieneauflagen obligatorisch sind und die Polizei mit der Situation überfordert war, wäre ein Verbot effizient und legitim gewesen. Das Infektionsschutzgesetz zur Verhinderung der Ausbreitung des Virus zum Schutz der Gemeinschaft und insbesondere zum Schutz von Risikogruppen stellt Verstöße dagegen, wie sie zu beobachten waren, nicht nur amoralisch und gegen die FDGO, sondern auch illegal. Angesichts der verbotenen Hanau-Gedenkveranstaltung und der Erfahrungen mit vorherigen Demonstrationen dieser Veranstalter, war ein Verbot konsequent, zeigte eine klare Linie zur Corona-Handlungsmaxime der Bundesregierung und konnte zeigen, dass die Wut der Rechten die Politik nicht länger bestimme. Die Verfassungsfeindlichkeit einiger Teilnehmer konnte die öffentliche Ordnung und Sicherheit nachhaltig beeinträchtigen, der Umgang mit radikalen Ansichten wurde normalisiert und die Infektionsschutzauflagen willentlich verletzt. Um dies zu verhindern, war ein Verbot notwendig, effektiv und mit der freien, demokratischen Grundordnung legitimiert.

[4] [9] Bangel, Christian: Verbotene Corona-Demo: Neue Härte (26.8.2020, 15:24) https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-08/verbotene-corona-demo-berlin-rechtsextreme-hanau-gedenk-demo (1.9.2020, 15:55)

[3] Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch die Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_8.html (1.9.2020, 15:44)

Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch die Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_5.html (1.9.2020, 15:54)

[1] Gensing, Patrick (ARD-faktenfinder): Nach Corona-Demo in Berlin Fake News über Zahl der Teilnehmenden (02.08.2020, 18:23) https://www.tagesschau.de/faktenfinder/corona-demo-berlin-109.html (2.9.2020, 9:21)

[6] Heidtmann, Jan: Kein Grund für ein Demonstrationsverbot (26. August 2020, 20:43) https://www.sueddeutsche.de/politik/berlin-demo-verbot-corona-versammlungsfreiheit-1.5010759 (1.9.2020, 16:09)

[5] [7] Reuter, Markus: Grundrechte Demonstrationsfreiheit ist nicht Geschmacksache (26.08.2020, 18:12) https://netzpolitik.org/2020/grundrechte-demonstrationsfreiheit-ist-nicht-geschmacksache/#vorschaltbanner (1.9.2020, 16:03)

[2] Steinkohl, Ulrich: Bundespräsident Steinmeier verurteilt die Besetzung der Treppe des Reichstagsgebäudes durch rechte Demonstranten (31.08.2020, 13:33) https://www.juedische-allgemeine.de/politik/verabscheuungswuerdig-und-unertraeglich/ (1.9.2020, 15:43)

[8] [10] Sundermeyer, Olaf: Kommentar | Verbot von Corona-Demo in Berlin: Das Ende der Geduld (26.08.2020, 19:05) https://www.rbb24.de/politik/thema/2020/coronavirus/beitraege_neu/2020/08/corona-demonstration-berlin-senat-verbot-kommentar-sundermeyer.html (1.9.2020)