Eine Rezension von Johanna Schlichting (Q3, GK Deutsch Fr. Schubert).
Spoilerwarnung! — Achtung Spoiler! — Spoilerwarnung!
Montag, 20:00 Uhr, in der Berliner Vagantenbühne geht der Vorhang auf. Woyzeck – ein sozialer Verlierer im Trainingsanzug spielt „Krieg den Palästen 3“ auf seiner Playstation. Georg Büchners berühmtes Zitat und Aufruf zur Revolution wird hier zu einem reinen Ballerspiel in der Neuinszenierung seines Dramas „Woyzeck“ degradiert.
Regisseur Brian Bell konfrontiert seinen Woyzeck mit den zahlreichen Problemen der modernen Welt, unter denen Spielsucht und soziale Abhängigkeit noch die harmlosesten zu sein scheinen. Als Student an der TU steht Woyzeck unter dem Leistungsdruck für den schwadronierenden Professor der Hochschule ein Projekt zu erarbeiten und gleichzeitig als Versuchskaninchen für dessen Ernährungsexperiment zu funktionieren. Seine einzige soziale Stütze dabei ist Andres, der andere Hochschulstudent, der ihn jedoch dazu nötigt, sich an Drogen zu versuchen und als Masseur für ihn zu arbeiten.
Woyzecks einzige Möglichkeit, dem Chaos in seinem Leben zu entgehen, ist der Kontakt zu seiner Liebe Marie – ein Online-Callgirl auf der Plattform JustFans, auf deren Masche er hineinfällt und der er nach und nach sein gesamtes Geld überweist.
Das Theaterstück nimmt seinen Lauf und für Kenner des Ursprungsdramas lassen sich darin immer mehr Originalfiguren wiedererkennen, doch es befinden sich weiterhin nur drei Personen auf der Bühne – Marie nicht mitgezählt, die bei Bedarf mit einem Beamer an die Wand projiziert wird.
Allen voran Woyzeck mit seinen Schwierigkeiten, sich sprachlich auszudrücken und seiner Anfälligkeit für Manipulation durch autoritäre Personen in seinem Leben, der Professor, für den er widerliche Erbsenshakes trinken muss. Außerdem übernimmt Brian Bell die bewundernswerte Eigenschaft Woyzecks aus dem Drama, sich finanziell voll und ganz für seine Liebe aufzuopfern, selbst wenn dies kaum sichtbare Erträge für Woyzeck bedeutet. Es ist eine nahezu mühelose und doch realistische Übertragung der Figur in die moderne Welt, ein Beweis für die zeitlose Aktualität des Dramas.
Der Professor ist als Woyzecks Bezugsperson ebenfalls gut getroffen und der Charakter nahe an der Figur des Doktors im Drama orientiert. Sein Egoismus sowie die manipulativen Eigenschaften, Schwächere und ihm Untergeordnete ausnutzen zu lassen, sich ohne weiteres auf Heute übertragen, ebenso seine Ablehnung von Unwissenheit und die Ignoranz gegenüber (gesundheitlichen) Schäden auf Seiten Woyzecks. Brian Bell entscheidet sich hierbei bewusst für eine möglichst dramengetreue Inszenierung, offenbar um die besondere Beziehung zwischen den beiden Figuren hervorzuheben. Es ist der Professor, an den Woyzeck sich wendet, wenn es ihm nicht gut geht; der ihm eine Richtung im Leben aufzeigt und ihm – mag die Intention gut oder schlecht sein – eine bezahlte Tagesbeschäftigung ermöglicht. Kurzum: Er ist eine Vaterfigur für Woyzeck.
Um diese Orientierung am originalen Drama zu untermauern, werden einige Zeilen des Originaltextes mit in das Theaterstück übernommen, die jedoch zwischen all der modernen Sprache und den Schimpfwörtern ziemlich fehl am Platz scheinen.
Fehlt noch der Dritte im Bunde: Andres. Er verkörpert die Verschmelzung aller anderen relevanten Personen des Dramas und das Überraschende: Es funktioniert.
Er ist gleichzeitig Woyzecks Freund (Andres im Drama), sein Arbeitgeber für einen Minijob (der Hauptmann) und, wie sich am Ende herausstellt, auch Marie, die nur eine digital existierende Person ist. Im Zuge seines Hochschulprojektes verändert Andres mithilfe von KI sein Aussehen und übernimmt so die Rolle des Callgirls. Woyzeck erfährt von diesem Betrug und konfrontiert Andres, dem das Ganze überhaupt nicht leid zu tun scheint. Dadurch verkörpert er in gewisser Weise auch die Figur des Tambourmajors im Drama, dem Konkurrenten Woyzecks, der ihm Marie wegnimmt. Regisseur Bell nutzt diese Verschmelzung, um Woyzecks soziales Umfeld zu einer Person werden zu lassen, die mit Woyzeck interagieren kann, um so die fehlende Möglichkeit, im Theater Situationen zu beschreiben, zu überbrücken, aber auch, um die Rarität in Woyzecks Leben zu verdeutlichen. Alles ist knapp bei ihm. Geld, Liebe, Intelligenz. Und eben auch soziale Kontakte.
Dazu gehört auch die Entscheidung, Marie nur per Video am Theaterstück teilhaben zu lassen. Sie symbolisiert treffend das Auseinanderleben moderner Beziehungen, die nur noch durch digitalen Kontakt aufrechterhalten werden können.
Diese Genialität der Umsetzung der Figuren aus Büchners berühmtem Drama machen das Theaterstück einzigartig. Ein Genuss – für die Kenner des Originaldramas wie auch alle anderen. Ein absolut empfehlenswertes Erlebnis, wenn es nicht von plötzlichen, abstrusen und häufig unnötigen Ausbrüchen von sexuellen und übergriffigen Tätigkeiten überschattet wäre.
Um 21:30 Uhr verbeugen sich die drei Schauspieler. Applaus. Dieser Abend vereint Gefühle von Begeisterung und Irritation.